Labor & Stadt

NOLAB: Stadt ist keine Privatsache bzw. warum die Stadt kein Labor sein kann!

Überlegungen zur gegenwärtigen Praxis von Stadtforschung und Entwicklung.

Wie kommt es dazu das ich über dieses Thema – warum die Stadt kein Labor sein kann – schreibe?

Im Zusammenhang mit dem Titel dieses Textes ist zu Beginn das so genannte NOLab zu erwähnen. Dieses Labor war Teil der Lehre am Institut für Architektur und Medien an der technischen Universität Graz. Wie der Name es schon sagt – das NOLab wollte offensichtlich kein Labor sein, zumindest verstehe ich es heute so. Nachträglich bei genauerer Betrachtung des Begriffs Labor finde ich den Namen NOLab im Zusammenhang mit Architektur und Stadt mehr als gelungen, warum das so ist sollte sich für den Leser im Laufe dieses Textes klären.

Als wir im Dezember 2013 unser Projekt gründeten nannten wir es, in einer der Zeit geschuldeten Hektik, Hallschlag Laboratory. Nun kamen in den letzten Wochen vermehrt Anfragen wie es dazu kommt das wir uns nun nicht mehr Hallschlag Laboratory nennen sondern Hallschlag Space Research? Das resultiert im Wesentlichen aus zwei Gründen.

Zu Beginn hatten wir noch keine eigene Domain bzw. unsere Webpräsenz war über eine Subdomain eines anderen Projekts erreichbar. Zwar etwas unseriös, wenn man das heut zu Tage überhaupt noch sein kann, aber für den Anfang ausreichend. Um auf unsere forschende Tätigkeit hinzuweisen erschien es uns bei der Gründung des Projekts als sinnvoll unseren Namen mit dem Begriff Labor zu erweitern. Keinesfalls um uns damit als Wissenschaftler bzw. als wissenschaftlich profilieren zu wollen. Oder vielleicht doch? Die Wahrheit liegt wie so oft irgendwo dazwischen.
Bei genauerer Betrachtung wurde uns aber relativ schnell klar, dass die Verwendung des Begriffs Labor in Kombination mit Stadt leichtsinnig, um nicht zu sagen naiv, war. Wir stellen heute fest, dass die Verwendung des Begriffs Labor – unsererseits in Relation zu unserem Projekt – ein Fehler war. Da wir keinen Anspruch auf Wahrhaftigkeit erheben ist es für uns nachträglich kein Problem Fehler einzugestehen. Das Unerwartete ist unseres Erachtens sowieso die einzige Möglichkeit etwas „Neues“ zu finden – ohne hier weiter auf das Wesen des so genannten „Neuen“ einzugehen. Unser Anliegen bleibt der Prozess, der Weg und nicht das Füllwerk, aber vielleicht ist diese Sichtweise auch zu naiv, wir werden sehen – die Zukunft wird es zeigen.

Zugegeben das klingt bis hier her komplizierter als es war oder ist. Um es etwas abzukürzen – jetzt haben wir eine Domain die, wie wir meinen, in ihrer Einfachheit nicht zu schlagen ist. Der Begriff Labor ist verschwunden und übrig ist nur mehr Hallschlag.org. Ganz konnten wir uns nicht von dem inneren Drang uns profilieren zu wollen lösen – deswegen gibt es jetzt noch den Untertitel „Urban Settlement Space Research“. 1 Nun gut, der erste banale Grund warum wir den Begriff Labor aus unserem Projekttitel gestrichen haben ist die Veränderung der Domain.

Der zweite Grund wiegt da schon viel schwerer, wie wir meinen. Er resultiert aus einem inhaltlichen Widerspruch zwischen den Begriffen Stadt und Labor – der unserer Meinung nach allen so genannten „Stadtlaboren“ anhaftet. Teils vielleicht bewusst, teils unbemerkt hat sich das Gegensatzpaar von Stadt und Labor in die Terminologie der Stadtforscher, Stadtplaner, Raumverbesserer und Architekten eingeschlichen. Ein Forschungsprojekt das sich mit Stadt beschäftigt kann einfach kein Labor sein! Warum das so ist, warum es kein so genanntes Stadtlabor geben kann?

Das Labor zeichnet sich durch eine isolierte Umgebung aus – innerhalb dieser das zu erforschende in einer kontrollierten wiederherstellbaren Umgebung betrachtet wird. Das heißt ein Labor ist eine nicht „reale“ Umgebung. Ein Labor kann zwar real stattfinden – also wahrhaftig sein, es wird aber im Sinn der Wirklichkeit nie die Realität unserer Raumwahrnehmung, der Städte und Stadtteile wiederspiegeln.

„Das Labor ist also eine virtuelle Einrichtung, die in fast allen Hinsichten mit dem Experiment zusammenfällt. Ähnlich wie eine Bühne, auf der von Zeit zu Zeit ein Schauspiel gegeben wird, stellt das Labor einen Abstellraum für die Kulissen dar, die benötigt werden, wenn die soziale Welt in Experimenten nachgestellt wird.“ 2

Und darin liegt das Problem mit der Stadt und den Laboren! Dieser aufgezeigte Konflikt hat nichts mit einer begrifflichen Pedanterie unsererseits zu tun. Denn der zuerst scheinbar begriffliche Widerspruch setzt sich in der Auslegung und Umsetzung der so genannten Stadtlabore fort. Die gängige Verwendung des Begriffs Labor reflektiert das Verständnis und die Methodik der Untersuchung, die in vielen Stadtlaboren zu finden ist. Sie simulieren das städtische Schauspiel – verstehen die Stadt als Bühne außerhalb ihrer immanenten wechselseitigen und deswegen untrennbaren Zusammenhänge. Sie betrachten Vorgänge ähnlich einem Schaukasten – isoliert und völlig losgelöst von einer >Atmosphären Wirklichkeit< der Stadt die sich aus der dynamischen Überlagerung der ortsspezifischen Potenziale individuell – in Abhängigkeit zu Zeit, Ort und Individuum – synthetisiert. Ein Zitat von Norbert Elias trifft diese Untrennbarkeit, die Unmöglichkeit Zusammenhänge im städtischen Kontext getrennt zu betrachten ganz gut:

Ähnlich verhält es sich mit einem Haus. Was wir seine Struktur nennen, ist die Struktur und der Aufbau nicht der einzelnen Steine, sondern der Beziehungen zwischen den einzelnen Steinen, die es bilden; es ist der Zusammenhang der Funktionen, die es bilden; es ist der Zusammenhang der Funktionen, die die Steine im Verbande des Hauses füreinander haben.“3

Wenn wir das Ergebnis verändern wollen, müssen wir die Methode ändern – zu kartieren, ein paar Befragungen, ein paar Pflänzchen, ein Spektakel aus Sperrholz zur Belustigung der ohnehin scheinbar planlosen Masse auf Kosten von diversen Fördertöpfen wird nicht reichen und ist mehr als Augenauswischerei kombiniert mit zusammenhangslosen Kompensationsneurosen. Am Ende entpuppen sich fast alle Projekte als Rechtfertigung ihrer eigenen Existenz weil sie dem isomorphen Profilierungs– und Erfolgsdruck einer in sich beschleunigten Gesellschaft unterliegen. Alle guten Vorsätze verkommen am Ende zu dem Schrei nach Anerkennung und Individualität der eigenen Identität.

„[…] den damit geraten Formen der Anerkennung in den Blick, die deswegen als Mittel sozialer Herrschaft wirksam sind, weil sie nach dem Muster ritueller Bestätigungen ein gesellschaftskonformes Selbstbild schaffen und daher zur Reproduktion der existierenden Verhältnisse beitragen.“ 4

Es sei einmal dahingestellt welche Projekte zur Stadtentwicklung egal welcher Couleur (ob bewusst oder unbewusst) nicht in einem endlosen Strudel der Rechtfertigung und Bestätigung bestehender Verhältnisse enden. Da wir aber niemanden etwas Schlechtes unterstellen wollen – und uns auch nicht – gehen wir davon aus, dass es der geringere Anteil der Projekte ist – auch wenn wir wissen, dass wahrscheinlich genau das Gegenteil der Fall ist.

Wie könnte es anders funktionieren – oder besser wie könnte eine positive Initiation einer Stadtteilentwicklung aussehen? So wie wir uns in der Definition und Planung eines öffentlichen Raums nicht von sozialen Erwartungshaltungen blenden lassen dürfen – dürfen wir auch keine sozialromantischen Erwartungshaltungen in gemeinschaftstherapeutische Stadtteilfeste und Partizipationsprojekte stecken. Ich habe nicht ganz verstanden wie es dazu kommt, dass Stadtteilentwicklung schon wieder bzw. immer noch den Anschein erwecken will, dass sie partizipativ von statten gehen kann, soll und/oder muss. Aus einer Hilflosigkeit heraus scheint es fast so als ob einfach die alten Apparate bzw. Methoden der 70 Jahre entstaubt wurden um das innere offensichtlich nicht greifbare Unwohlsein bei der Produktion von (Stadt)Architektur zu befrieden. Man könnte bei vielen Projekten den Eindruck gewinnen sie sind eine gegenwärtige Rücksicherung (weil im Bezug zur Vergangenheit) für zukünftige Einwände. Das immerwährende Hochhalten der Partizipationsflagge im Zusammenhang mit Stadt und Stadtteilentwicklung halten wir nach drei jähriger Forschungsarbeit im Hallschlag noch weniger zielführend als zu Beginn dieses Projekts.

Eine Teilschuld am unerfreulichen Zustand der Stadtforschung trägt ohne Frage die Existenz der Architektur zwischen Geistes– und Naturwissenschaften. Man könnte auch sagen – wenn die Stadt schon als Bühne verstanden wird und das Gegenwärtige das Schauspiel ist – dann sollte der Architekt ohne Frage eine andere Rolle in diesem Stück spielen.

Die inhärenten gesellschaftlichen Widersprüche die sich zwischen Bild und Selbstbild der Architektur auftun lassen sich in einem zugegeben etwas gewagten Vergleich ganz gut und anschaulich erklären. Im Regelfall dauert das Medizinstudium in Österreich 6 Jahre – der Abschluss erfolgt mit einem Doktor. Der direkte Vergleich, das Architekturstudium dauert ca. 6 Jahre ein Abschluss erfolgt mit einem Diplom Ingenieur. Um in der Architektur ebenfalls mit einem Doktor abzuschließen muss man ein weiteres mindestens dreijähriges Studium anhängen. Mal ganz abgesehen von der mit Kosten verbundenen Ziviltechnikerprüfung nach dreijähriger Praxis und den zusätzlichen monatlichen Folgekosten für eine aktive Kammermitgliedschaft welche notwendig ist um sich überhaupt Architekt nennen zu dürfen. Vergleicht man die Mindeststudienzeiten 5 dieser beiden Studienrichtungen – wird man ohne Frage feststellen, dass es im zeitlichen Mindestaufwand kaum Unterschiede gibt. Das heißt die Institution der Universität legitimiert durch den Staat und in weiterer Folge im besten Fall durch die Gesellschaft verhält sich auf einer zeitlichen Ebene der Ausbildung so als ob diese Berufe gleichwertig wären. Diese Gleichwertigkeit kommt allerdings nur in der Studienzeit zum Ausdruck – in der späteren Arbeitswelt, in der Gesellschaft, verhärtet sich der Widerspruch, das Misstrauen und die Geringschätzung gegenüber dem Beruf des Architekten. Aber warum ist das Vertrauen in den Architekten so gering und warum ist seine/unsere Meinung Verhandlungssache? Während die wenigstens mit dem Arzt über ihr Krankheitsbild diskutieren bzw. mit ihm darüber plauschen wie sie es gern hätten 6 wird der Architekt im Laufe von bestimmten Projekten meistens zum Handlanger und ausführendem Organ diverser Hochglanzmagazine. Jeder kennt diese Magazine, Bücher und Zeitschriften die uns permanent und uniformiert vor Augen führen wie so genannte schöne Räume, Gebäude, Stadtteile und Städte auszusehen haben bzw. wie sie eben nicht auszusehen haben.

Um den Vergleich bis hierher noch einmal zusammen zu fassen – die allgemeine gesellschaftliche Auffassung könnte wie folgt beschrieben werden – gehe ich zum Arzt dann gehe ich in ein Geschäft mit fixen Preisen, gehe ich aber zum Architekten dann gehe ich auf den Marktplatz auf dem man wie wir alle wissen handeln können. Was wir Architekten daraus schließen könnten wäre, dass wir uns nicht immer hinter der „Mitsprachekeule“ verstecken können, dass wir als Architekten selbstbewusster auftreten weil wir die Experten für Raum und in weiterer Folge auch für das Wohlbefinden im Raum sind. Der Architekt wird als Berater wahrgenommen und gibt sich auch so, das Eine wirkt wie so oft in das Andere, während er in Wirklichkeit eine Autorität im Bezug zu räumlichen Fragen sein sollte.

Man darf bei der ganzen Kritik an dem Selbstbild und an der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Architekten natürlich nicht vergessen, dass wir alle einem ökonomischen Druck unterliegen der uns in der Erfüllung monetärer Verpflichtungen dazu zwingt opportun zu handeln. Auch wenn die Forderungen des Geldes bzw. der Ökonomie, dabei nicht ausgenommen die der Ökologie, völlig an der >Atmosphären Wirklichkeit< unserer umbauten Umwelt vorbeiwirken. Wir Architekten sind am Ende Sklaven der Wirtschaft und das mittlerweile fast ohne Einschränkung. Denn die Produktkataloge haben endgültig uneingeschränkt Einzug in den Unterricht unserer Hochschulen gehalten. Es wird nicht mehr das Prinzip unterrichtet sondern das spezifische Produkt, das Werkzeug bzw. der Weg.

Nun könnte der eine oder andere behaupten, der Vergleich zwischen dem Arzt und dem Architekten hinkt, ist zu populär und/oder vielleicht sogar unpassend. Zu einem gewissen Grad stimmt das auch, dass haben Beispiele so an sich, da sie eben nur einen prinzipiellen Vergleich herstellen. Trotzdem zeigt uns dieser Vergleich ein paar neuralgische Punkte im Widerspruch der gegenwärtigen architektonischen Existenz (Bild<>Selbstbild). Wir sind uns einig, dass ein schlechter Raum auch krank machen kann und während unser Körper der Raum ist in dem wir uns bewegen ist die Architektur der Raum in dem man sich bewegt. Der Architekt ist also auf einer anderen Ebene der gefühlten Körperlichkeit 7 für eine „innere“ wie auch „äußere“ Gesundheit zuständig – zwar etwas subtiler als der Arzt aber ohne Frage mit ähnlicher Verantwortung. Doch diese Verantwortung des Architekten steht in keinem Verhältnis zur gesellschaftlichen Anerkennung. Dieser Widerspruch manifestiert sich in der Rolle des beratenden Experten. Wir Architekten werden einerseits durch den schon erwähnten gesellschaftlichen isomorphen Druck (unter anderem weil Architektur/Stadt eben keine Privatsache ist) in die Rolle eines Vermittlers zwischen Privatinteressen und öffentlicher Meinung getrieben. Andererseits bewirkt unser eigenes Handeln, unsere eigene Unsicherheit, dass wir uns meist wie Berater verhalten. Am Ende scheint Architektur und damit auch Stadt eine Frage der Rechtfertigung, vor sich selbst und der Öffentlichkeit, die in unterschiedlichsten Werkzeugen zur Produktion von Raum ihre Antwort findet.

„Traditionelle Konzepte der Wissensgesellschaft definieren Wissen als Aussagen über wissenschaftliche Inhalte, als technologische Anwendung oder – eventuell – als intellektuelles Eigentum. Die Definition die ich empfehle, verlegt das Gewicht auf Wissen, wie es ausgeübt wird – im Rahmen von Strukturen, Prozessen und Umwelten, die spezifische epistemische Kulturen ausmachen.“ 8

Uns sollte klar sein, dass im Zentrum einer Stadt(teil)entwicklung nicht das Werkzeug (Stadtteillabor, Urban Gardening, Installationen etc.) stehen darf sondern es muss der Nutzer und sein Nutzungsverhalten, in Relation zur vorhandenen räumlichen Struktur, im Mittelpunkt stehen.

Wie ich in dem ersten Text 9 im Rahmen des Hallschlag Forschungsprojekts hingewiesen habe, geht es um das Individuum – den Nutzer selbst der in der Benutzung bzw. der Synthese zu einem bestimmten Zeitpunkt die Potenziale des Raums zum Ort macht. Das heißt eine Stadt– bzw. Quartiersentwicklung kann nur funktionieren wenn man sich im Vorfeld intensiv mit dem Nutzungsverhalten der Bewohner beschäftigt – und zwar in Form einer zurückhaltenden Beobachtung. Eine anonyme Beobachtung, Dokumentation und Analyse der produzierten Artefakte, Räume, Grenzen etc. kann in weiterer Folge für erkenntnistheoretische Schlüsse und eine positive Entwicklung des Betrachtungsgebiets genutzt werden. Natürlich ist es uns auch klar, dass die Beobachtung im architektonischen Diskurs nichts Neues ist, denkt man dabei einfach an Kevin Lynch oder Jane Jacobs. Die Beobachtung scheint aber ein Strang in der Geschichte der Stadtforschung dem auf Grund seiner subjektiven Klassifikationsmuster zu wenig Achtung geschenkt wurde und wird. 10 Es wäre in unserem Fall – bezieht man sich auf den bekannten Buchtitel von Kevin Lynch – nicht das Bild der Stadt sondern das Bild der Benutzer. Diese Form der Entwicklung könnte man unserer Meinung nach als „leise Stadtteilentwicklung„ verstehen bzw. bezeichnen weil sie sich gegenüber den herkömmlichen und gängigen „lauten“ Spektakeln ansiedelt. 11 Uns ist auch klar, dass dies viele die sich mit Stadtentwicklung beschäftigen nicht leisten können oder wollen. 12 Denn die einen – um nur zwei Beispiele zu nennen – ziehen wie die Wanderzirkusse von Stadt zu Stadt – die anderen sitzen eingekapselt in ihren Stadtteilentwicklungsbüros und spulen seit Jahrzehnten das gleiche Programm ab und nur die wenigsten sind intrinsisch veranlagt.

Wir wollen hier nicht bestreiten, dass es in vielen Projekten den Versuch gibt die Bewohner mit einzubeziehen – aber diese Beteiligungsverfahren bleiben eben meist nur ein Zeichen des so genannten guten Willens. Vorläufig bleibt die Partizipation die Rechtfertigung, die scheinbar letzte ethische Instanz des zwischen Orientierungslosigkeit und Machtlosigkeit oszillierenden Architekten. Der Mechanismus der Rechtfertigung scheint in der gegenwärtigen Produktion von Raum überhaupt eine große Rolle zu spielen. Aus einer inneren Unsicherheit der Architektur wurde die Rechtfertigung für die Produktion zur eigenen Entität. Diesen interessanten Vorgang, nämlich der gegenwärtige Zusammenhang von Raum und Moral, muss man mehr Zeit schenken und er sei hier nur kurz erwähnt.

Wieder zurück – wir sind uns alle einig – eine Beteiligung ist nicht gleich Beteiligung – neben dem Was stellt sich vor allem auch die Frage des Wann. Investitionen welcher Art auch immer Fallen nicht vom Himmel sondern müssen getaktet werden. Wie wir meinen Scheitern viele Projekte an dem eigentlichen Verständnis und im Umgang mit Zeit. Natürlich nicht im herkömmlichen Sinn – denn hier sprechen wir nicht von Ablaufplänen zur Einhaltung von Terminen. Nein – genau das Gegenteil scheint unserer Meinung nach wichtig – nämlich der Zeit seinen Freiraum zu lassen. Vor allem dann wenn man mit Menschen zu tun hat sind stupide Termine nichts anderes wie wahllose Grenzen die sich über kulturelle und räumliche Tatsachen hinwegsetzen. Wie ich in meinen Überlegungen zur Raumaneignung festgestellt habe stellt sich bei der Entwicklung von Stadtteilen und bei der damit verbundenen Investition immer die Frage des zeitlichen Ablaufs.

„Neben der Motivation & Manifestation des Prozesses spielen die Reihenfolge und der Übergang (Zwischenraum) der einzelnen Prozessphasen eine wesentliche Rolle für eine nachhaltige räumliche Entwicklung im spezifischen Gebiet.“ 13

Wann investiert man Wo, Wie und Was? Wir glauben die Investitionen (und sei es „nur“ Zeit) müssen zu Beginn in die Erforschung des anonymen Nutzungsverhaltens der Bewohner fließen. Das heißt aus der Erforschung einer anonymen Raumaneignung und Nutzung werden Vorschläge für einen zukünftigen Umgang mit der Ressource Raum in dem spezifischen Gebiet generiert.Die Methode die sich für uns als am dienbarsten herausgestellt hat – wer hätte nach den vorangegangen Zeilen auch etwas anderes erwartet – ist die Beobachtung. Wie schon erwähnt – es ist klar, dass dies nichts Neues ist – und wir erheben auch keinen Anspruch auf etwas Neues. Wahrscheinlich geht es am Ende darum im Rahmen von Quartiersentwicklung die Ernsthaftigkeit und Integrität der Beobachtung wieder zu finden. Nur wer beobachtet kann lernen. Während es in der Technik die Natur ist – die sehr oft als Vorlage dient – sollte es in der Stadt die Stadt und ihre Nutzung selbst sein. Denn die Stadt stellt unsere einzige reale weil „artifizielle“ räumliche Natur dar.

Irgendwie kann ich auch verstehen, dass das Beobachten in Zeiten von diversen Onlineressourcen zu der praktischen weil so bequemen Vogelperspektive verkommt. Viele gehen nicht mehr an den Ort – warum auch es gibt Luftfotos, Fotos und für die seriösen unter uns Architekten gibt es dann auch noch den Katasterplan. Und ich muss gestehen – für mich war das vor Beginn dieses Projekts auch meist ausreichend. Wenn ich besonders genau sein wollte habe ich das Baufeld noch einmal vor Ort angesehen – aber das hatte natürlich nichts mit einer seriösen Beschäftigung zu tun – denn selbst beim 10ten mal vor Ort findet man völlig neue eventuell wichtige Aspekte. Das heißt, die vorgefertigten, gängigen und gegenwärtigen Methoden sich eine Ortskenntnis anzueignen sind im Vergleich mit der Beobachtung vor Ort relativ haltlos. Weil die meisten Informationssammlungen, Kartierungen, Analysen etc. eben nicht die anonymen nutzerspezifischen Informationen enthalten die wir brauchen – die Notwendig sind um von innen heraus zu wirken. Paul Virilio – dessen poetisch und präzise formulierten Texte ich persönlich sehr schätze – hat in einem seiner Bücher geschrieben, leider finde ich die Passage eben nicht mehr, ich denke es war „Bunker Archäologie“ – sinngemäß: die Karte ist neben dem Luftbild ein unverzichtbares Instrument weil sie alle Brüche darstellt. Ja das sehe ich auf jeden Fall auch so aber was nützen mir die gegenwärtigen gängigen vorgefertigten Kartierungen wenn sie nicht die Informationen enthalten die wir für die Lösung der Bauaufgabe brauchen? Wenn die realen Brüche fehlen, die Grenzen, die Durchwegungen, die Öffnungen etc. – die den umbauten und/oder/bzw. öffentlichen Raum erst zu dem machen was er in unserer täglichen operativen Benutzung und damit Wahrnehmung ist? Außerdem – nicht außeracht zu lassen ist die Frage der Darstellung der Daten um die dementsprechenden Informationen überhaupt erst zu erhalten. Meist sind es nur quantitative Analysen die die Qualität als imaginierte nachträgliche Eigenleistung voraussetzen. Das Baufeld bleibt bei den meisten Stadtentwicklungskonzepten vorläufig ein Territorium des Kapitals (und bleibt es in den meisten Fällen der Untersuchung) ohne Hier und Jetzt weiter darauf einzugehen was Grenzen „früher“ waren und „heute“ sind. Klar sollte auf jeden Fall sein, dass eingezeichnete Grenzen meistens keinen Bezug zur umbauten qualitativen und operativen Realität haben. 14 Noch dazu sind Grenzen nur ein Faktor von vielen der bestimmend ist. Etwas polemisch aber passend – was macht ein Schiffskapitän am Meer mit einer Wanderkarte? – nichts, weil sie eben keine Information enthält die er braucht!

So platt das für den einen oder anderen auch klingen mag – vorläufiges Resümee ist, man muss sich mit den Bewohnern und ihrem Nutzungsverhalten beschäftigen. Und eines steht trotz eventueller Skepsis gegenüber dieser Erkenntnis außer Frage – wir also die Öffentlichkeit bzw. unser öffentlicher Raum befindet sich im Wandel – denkt man dabei einfach an moderne Kommunikationstechnologien. Das heißt auch die Nutzung und der Umgang mit dem öffentlich zugänglichen Raum – der Stadt – steht im Wandel. Um darauf zu reagieren, was man als Architekt eventuell sollte – muss man nicht imaginieren sondern einfach beobachten und interpolieren. 15 Man muss sich in das Quartier bewegen, man muss die Menschen beobachten und aus den Notwendigkeiten die in alltäglichen Situationen zum Ausdruck kommen lernen.

Damit wir Vorschläge entwickeln können müssen wir also Beobachten und das am besten ohne das Beobachtete durch unser Tun zu kontaminieren, determinieren und zu beeinflussen. Prinzipiell ist es aber – wie wir wissen – eigentlich unmöglich die absolute Position eines anonymen Beobachters einzunehmen – deswegen soll uns in diesem Fall vorläufig die Intention reichen. Bei der Methodik der Beobachtung scheint im Bezug zum Aufwand des Verfahrens (der „stillen“ anonymen Beobachtung) weniger mehr – und so ein relativ kleines Viertel wie der Hallschlag ideal für unsere Vorhaben. Das heißt der Hallschlag wird zu unserem ersten real beobachteten Gegenstand an dem sich in Wechselwirkung bzw. Abhängigkeit zu Typologie, Durchlässigkeit, Fragmentierung, Zugänglichkeit, Demografie, Morphologie, Atmosphäre, Ethnografie usw. verschiedene anonyme Nutzungen und Verhaltensmuster der Bewohner im öffentlich zugänglichen Raum beobachten, dokumentieren und analysieren lassen. Aus diesen Beobachtungen können wir in weiterer Folge Positionen und Vorschläge für zukünftige Nutzungen des öffentlichen zugänglichen Raums entwickeln. 16

Denn die bloße Existenz soll der Architektur nicht reichen – da will ich mich an A. Loos halten und ein Zitat 17 von ihm sinngemäß im Bezug zur Stadt etwas anpassen – und sagen: „Kunst ist eine Privatsache, aber Stadt nicht!“ Und weil Stadt eben keine Privatsache ist – und sie nicht über das Ich im Wir funktioniert, kann Stadt kein isoliert betrachteter Raum sein!

(Josef–Matthias Printschler, Stuttgart 03/2016)

 

Dateiversionen (PDF):

  • 1.3 – 280916: Hallschlag_Text03_WarumDieStadtKeinLaborSeinKann_280916.pdf
  • 1.2 – 180316: Hallschlag_Text03_WarumDieStadtKeinLaborSeinKann_180316.pdf
  • 1.1 – 100316: Hallschlag_Text03_WarumDieStadtKeinLaborSeinKann_100316.pdf
  • 1.0 – 090316: Hallschlag_Text03_WarumDieStadtKeinLaborSeinKann_090316.pdf

Fußnoten:

  • 1 Anm.d.Verf.: Man könnte auch sagen unsere erkenntnistheoretische Konsequenz unterlag einem immanenten profilierungsneurotischen Druck.
  • 2 Knorr-Cetina 2002, 55.
  • 3 Elias 1987, 37.
  • 4 Honneth 2010, 105.
  • 5 Anm.d.Verf.: Hier sei der Unterschied in der Terminologie zwischen Deutschland und Österreich erwähnt. Während es in Österreich „Mindesstudienzeit“ heißt wird in Deutschland der Begriff „Regelstudienzeit“ verwendet. Es sollte jedem einleuchten, dass diese beiden Begriffe prinzipiell etwas anderes beschreiben obwohl sie oberflächlich dasselbe meinen.
  • 6 Anm.d.Verf.: Außer man geht zum plastischen Chirurgen der sich meist nur um die Oberfläche kümmert – obwohl es sich auch empfiehlt auf den plastischen Chirurgen zu hören, denn eigentlich sollte er besser wissen – zumindest wenn die Ästhetik bei ihm noch über der Ökonomie steht.
  • 7 Anm.d.Verf.: Sozusagen „außerhalb“ unserer Entität.
  • 8 Knorr-Cetina 2002, 18.
  • 9 „Raumwert & Raumaneignung: Überlegungen zur Quartiersentwicklung : eine Kritik am Kreativquartier; vom Raum der Minderheiten zum Raum der Mehrheit“
  • 10Anm.D.Verf.: Denn die Subjektivität wurde auf Grund einer „objektiven“ Ökonomie aus der Raumproduktion zur Gänze verbannt.
  • 11Anm.d.Verf.: Vielleicht ist es in diesem Fall auch gar nicht notwendig dafür einen „Namen“ zu finden allerdings scheint es Hilfreich wenn man darüber sprechen will.
  • 12 Anm.d.Verf.: In manchen Stellen bildet die Beobachtung den ersten oberflächlichen Punkt von Quartiersentwicklung um dann gegen alle möglichen Erkenntnisse die üblichen Lösungen über die Bewohner zu stülpen.
  • 13 Printschler 2014, 1.
  • 14 Anm.d.Verf.: Man denkt dabei z.B. einfach nur an Zäune die Grundstücke trennen – also in erster Linie den Besitz regeln aber im selben Moment die Durchlässigkeit bzw. Durchwegung unterbinden.
  • 15 Anm.d.Verf.: Die Imagination folgt in diesem Fall der Interpolation und nicht umgekehrt.
  • 16 Anm.d.Verf.: Mir ist klar, dass ich in dem Text zwischen umbauten Raum und öffentlich zugänglichen Raum hin und her springe – dies hat nichts mit einer Unentschlossenheit zu tun sondern damit, dass es im Hallschlag Projekt um beides geht. In der ersten Phase (in der wir uns noch befinden) geht es um den öffentlich zugänglichen Raum (gemeinhin Außenraum bzw. öffentlicher Raum) und nächsten Schritt geht es dann um den privaten Raum (Innenraum). Für unser gegenwärtiges Verständnis von „innen“ und „außen“ bzw. „privat“ und „öffentlich“ empfiehlt sich folgender Text: INTERAKTIONSPOTENZIAL: „Der indeterminierte Möglichkeitsraum: das Potenzial der räumlichen Fragmentierung. Siedlungsstruktur: verdichteter Flachbau.“ darin der Abschnitt: „RAUM: Zeit und Grenze“, Printschler 2015.
  • 17 „Das Kunstwerk ist eine Privatangelegenheit des Künstlers. Das Haus ist es nicht. Das Kunstwerk wird in die Welt gesetzt, ohne daß ein Bedürfnis dafür vorhanden wäre. Das Haus deckt ein Bedürfnis. Das Kunstwerk ist niemandem verantwortlich, das Haus einem jeden.“ Loos 2009, 75.

Literatur:

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  • PRINTSCHLER, J.–M. (2015). Die Insel: der unbewusste Raum – Betrachtungen zum Freiraum. Stuttgart, Online unter: http://www.stubenmusicstudio.com/hall/?p=484 (Stand: 18.03.2016 17:23:57)
  • PRINTSCHLER, J.–M. (2015). INTERAKTIONSPOTENZIAL: Der indeterminierte Möglichkeitsraum: das Potenzial der räumlichen Fragmentierung. Siedlungsstruktur: verdichteter Flachbau. Stuttgart, Online unter: http://www.stubenmusicstudio.com/metatecture/archives/1570 (Stand: 18.03.2016 17:23:57)
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